Der wahre Dracula

„Paß in der Nacht auf, dass du nicht gebissen wirst“ verbunden mit dem Hinweis, den Knoblauch nicht zu vergessen. Das waren die Standard-Reaktionen auf mein Reiseziel Transsylvanien. Der Mythos der Untoten, blutsaugenden Vampire in einer hinterwäldlerischen Burg auf schroffen Felsen hat sich tief in das kollektive Legendenbewußtsein gebrannt. So fiel die Auswahl des richtigen Buches zur besuchten Gegend leicht: Der „Frankenstein“ von Mary Shelly und „Dracula“ von Bram Stoker mussten ins Reisegepäck für Siebenbürgen (Transsylvanien).

Vielleicht hat sich mein visuelles Gedächtnis durch zu viele „Rocky-Horror-Picture-Show“-Besuche getrübt. Oder die Bilderflut überlagert die Erinnerung an die Jahrzehnte zurückliegende Lektüre des Frankensteins. Denn statt des erwarteten Transsylvanien kam nur Bayern, die Schweiz, Schottland und die Arktis vor. Denn eigentlich ist der Frankenstein von Mary Shelly die Lebensbeichte eines Schweizer Wissenschaftlers, der von einem im Eis festsitzenden Kapitän auf der Suche nach einer Passage zum Nordpol gepflegt wird.

Frankenstein schuf sein Monster nicht in Transsylvanien, sondern im bayrischen Ingolstadt. Egal werden viele sagen, sind doch die gleichen Hinterwäldler. Aber wer kommt schon auf die Idee, seinem Bayernurlaub durch die Frankenstein-Lektüre etwas Nervenkitzel zu verleihen. Und das Ingolstadt damit wirbt, Geburtsort des Frankenstein-Monsters zu sein, habe ich auch noch nicht gelesen. Weitere Handlungsorte sind die Schweiz, Schottland und das ewige Eis der Arktis. Keines der Bilder eines durch Blitze erleuchteten Schlosses in der Einsamkeit der Karpaten lässt sich auf dieses Buch zurückführen.

Fast scheint es mit dem Frankenstein wie mit Weihnachten zu sein. Keiner kann mit Genauigkeit sagen, was der Weihnachtsmann an der Krippe in Bethlehem gemacht hat und wer er überhaupt ist. Ob der Esel im Stall vielleicht „Rudolf das rotnasige Rentier“ war? Und überhaupt, seit wann sind Rentiere im Nahen Osten heimisch und wer ist dieser dicke, versoffene Santa Claus? Kann es sein, dass die Waisen aus dem Morgenland Coca-Cola statt Weihrauch und Myrre mitbrachten? Ich auf jeden Fall kriege die Bilder nicht mehr in eine Erzählfolge und so ging es mir auch mit dem Frankenstein. Original und Bilderwelt klafften deutlich auseinander.

Doch am Ende allen Grübelns und aller Recherche ergab sich doch noch eine vage, indirekte Verbindung. Mary Shelly, ihr zukünftiger Mann, der romantische Dichter Percy Shelly, Lord Byron und sein Leibarzt John Polidori saßen 1816 am verregneten Genfer See fest und konnten oft nicht vor die Tür, weil es nach einem Vulkanausbruch den legendären Sommer ohne Sonne gab. Also beschlossen sie, sich gegenseitig Schauergeschichten zu erzählen. Es muss ein wirklich düsterer Sommer gewesen sein.  Mary Shelly erfand den Frankenstein und Polidori, dessen Buch in Deutschland zuerst fälschlicherweise Lord Byron zugeordnet wurde, erzählte die erste Vampirstory der Literaturgeschichte. Aber die spielte auch nicht in Transsylvanien, sondern in London, Rom, Mittelgriechenland und in der Gegend um Manchester.

Erst der Ire Bram Stoker, fast 80 Jahre später verband die Geschichte der nachtaktiven Blutsauger mit Dracula und Transsylvanien.

Dass Stoker nie in Siebenbürgen war, ging mir im rumänischen Bistritz auf, als ich in den gleichnamigen Fluss schaute. Bis hierhin soll im Roman der englische Anwalt Jonathan Harker mit dem Schiff den Fluss hinaufgekommen sein. Doch in diesem kläglichen Rinnsal kann allerhöchsten ein Papierschiffchen gefahren sein. Und der Borgo Pass, auf den der Anwalt anschließend mit der Postkutsche fuhr, führt aus Transsylvanien heraus in die Bukowina. Also habe ich mir diese Strecke gespart.

Allerdings das beschriebene Dracula Schloss stimmt mit der Burg in Bam bei Kronstadt überein, im Süden Siebenbürgens. Doch alles Ausgesetzte, Einsame und Gruselige, das wir mit der Burg verbinden, hat nichts mit der Realität gemein. Bam ist wie die Nachbarfeste Rosenau eine Sicherungsfestung von Kronstadt am Rande der Karpaten gegen mögliche Invasoren aus dem Süden, der Walachei. Auch Grüfte mit Särgen oder Folterkeller hat die Burg nicht zu bieten. Stattdessen kann man von der rumänischen Königin Maria eigenhändig entworfenes Mobiliar aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bewundern.

Und auch eine exponierte Lage der Burg weit oberhalb des Talgrundes lässt sich nicht ausmachen. Gerade mal 40 Meter thront die Festung über der vielbefahrenen Durchgangsstraße. Jedes Schloss im Rheintal liegt exponierter. Und sollten dort jemals Vampire gelebt haben, sie hätten vor dem LKW-Lärm und dem Ruß längst Reißaus nach Hollywood genommen, oder in die LKW-Reifen gebissen vor Wut über die gestörte Tag-Ruhe.  Ganz zu schweigen von ihrem Ekel über die ganzen Touristen und Souvenirstände im Aufgang zur Burg – drei Häuser, 10 Kneipen und fast 100 Verkaufsbüdchen und dazwischen ein LKW am Anderen.

Ich weiß gar nicht, warum Stoker Transsylvanien für die Hinterwäldlerische Gegend hielt. Dabei ist Siebenbürgen ein westlich orientiertes Land mit schwäbisch anmutenden Zuständen. Mich würde es nicht wundern, wenn in den Dörfern noch Kehrwoche herrschen würde. Und geschichtlich war Siebenbürgen die östlichste Region des deutschen Reiches mit regelmäßigen Postverbindungen in die Metropolen. Das Ende der westlichen Welt begann südlich der Karpaten, in der Walachei.

Von dort stammt auch Stoker wahrscheinliche Namensvorlage, Vlad III  (der Pfähler). Er war Mitglied des Drachenordens (Dracu), der sich die Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen die eindringenden Türken zur Aufgabe gemacht hat. Vlad III wurde wegen seiner Grausamkeit und Unnachgiebigkeit gegen die Türken berühmt.  Er war ein Walachischer Fürst und kein Siebenbürger.

Und auch an dieser Stelle übertrifft das Grauen der Realität die Fiktion. Was ist ein blutsaugender Adeliger gegen einen Fürsten, der muslimische Gefangene mit dem Hintern auf angespitzte Baumstämme setzen und sie zur Abschreckung an den Landesgrenzen aufstellen ließ. Es müssen tausende gewesen sein. Ein osmanischer Oberbefehlshaber soll angesichts soviel Grausamkeit, das Kriegshandwerk aufgegeben haben und sich in seinen Palast nach Istanbul zurückgezogen haben. Und das will in einem an Grausamkeiten nicht armen Mittelalter schon einiges heißen. Aber nicht nur gegen die Muslime muss Vlad ein Unmensch gewesen sein. Seine Frau soll sich von der höchsten Stelle des Schlosses gestürzt haben, weil sie es mit ihm nicht mehr aushielt. Und in der Region soll sich die Geschichte halten, dass Vlad einem Brunnen zum schöpfen des Wassers eine goldene Kelle geschenkt hätte. Zu Lebzeiten des Herrschers sei dieses kostbare Stück niemals entwendet worden.

Was sind einige angebissene Dorfbewohner gegen solche Geschichten.