Leeres Bulgarien
Eigentlich sollte die nördliche Schwarzmeerküste Bulgariens einsam und unverbaut sein. So behauptete es wenigstens mein nagelneuer Reiseführer. Und eigentlich brauchte ich auch etwas Abstand von Trubel und den heruntergekommenen, verwohnten Plattenbauten am Meer. Denn deshalb bin ich schnell von der rumänischen an die nördliche Schwarzmeerküste Bulgariens geflohen.
In der Tat: unverbaut war der flache Küstenabschnitt bis Varna. Aber eigentlich überhaupt nicht einsam, denn eigentlich waren die 100 km von der Grenze bis Varna ein einziger Parkplatz. Wie die Buchten aussahen konnte (wg fehlender Abstellmöglichkeiten) und wollte (Menschenmassen) ich mir nicht ansehen. Also ab ins Binnenland.
Aber was an der Küste zu viel war, fehlte im Landesinneren. Die Straßen auf den 400 km bis Sofia hatte ich für mich alleine. Vollständig vereinsamt stand ich auf einem der wenigen akzeptablen Campingplätze im inneren Bulgariens nahe der mittelalterlichen Hauptstadt Veliko Tarnovo. Trotz 36 Grad Hitze war das Wasser bereits Anfang September aus dem Pool abgelassen worden und das mittelalterliche Fort und die malerische, über einem Flusstal hängende Altstadt im osmanischen Baustil hatte ich ganz für mich allein. Selbst als mein seniles Navi in Sofia uns mal wieder mitten durch die Stadt lotste, entging es der endgültigen Entsorgung nur, weil die Hauptstadt in der Rushhour stau frei zu durchqueren war. Und auch die riesige Klosteranlage von Rila döste menschenleer vor sich hin. Nur ein Reisebus mit jüdischen Touristen und ich als gläubiger Atheist besuchten das religiöse Zentrum der bulgarischen Orthodoxie in den Bergen. Tief kann die laut verkündete religiöse Erneuerung Bulgariens nicht gehen, wenn das die einzigen Besucher sind.
Die Leere Zentral- Bulgariens gruselte mich mitunter. Alle Zeltplätze waren geschlossen und auch viele Hotel bereits im Frühherbst verrammelt. Den Höhepunkt der Vereinsamung erreichte ich jedoch in der Klosterstadt Melnik an der griechischen Grenze. In einem großen, zentral gelegen Hotels der Stadt residierten an diesen Abend nur ein älteres kanadisches Ehepaar aus Ottawa und ich. Die Kanadier wunderten sich über die Preise (25 Euro für das Doppelzimmer und 9 Euro für ein dreigängiges Abendessen plus Wein) und ich mich über die fehlenden Bulgaren im eigenen Land bei diesen Preisen.
Beim Abendessen stellten wir wilde Spekulationen an. Hatte eine Seuche das Binnenland heimgesucht und die Einwohner an die Küsten vertrieben? Oder (meine These) Dracula war nach Süden gezogen und vergraulte die bulgarische Landbevölkerung? Am nächsten Tag fand ich die Bulgaren wieder, an der nordgriechischen Küste. Dort stellten sie die Mehrheit an den Stränden, auf den Campingplätzen und in den Hotels. Bulgarische Autokennzeichen dominierten die Straßen. Versteh einer diese Bulgaren, fliehen aus ihrer schönen billigen Heimat ins verbaute und teure Nordgriechenland.
Buchtipp zu Bulgarien: Ilija Trojanow „Macht und Widerstand“. Trojanow verschneidet darin in Rückblicken die Leidensgeschichte eines politisch Verfolgten, der seine Geheimdienstakten einsehen will mit der Geschichte eines Peinigers aus dem Geheimdienst, der im Nachwende Bulgarien politische Karriere machte, nun aber von einer jungen Frau bezichtigt wird, ihr Vater zu sein. Als Lagerkommandant soll er ihre inhaftierte Mutter vergewaltigt haben. Tolles Buch über alte Seilschaften, Vergangenheitsbewältigung, Opportunismus, Konsequenz und Haltung.