Alle Exilanten strömen nach Marsaille
„Laßt alle Hoffnung fahren“. Der Spruch über dem Höllentor in Dantes „Göttlicher Kommödie“ kam der österreichischen Schriftstellerin und Journalistin Hertha Pauli in den Sinn als sie nach abenteuerlichen Flucht vor den anrückenden deutschen Truppen vom Marsailler Bahnhof über den Prachtboulevard Cannebiere zum Hafen herunterschaute.
„Das lockende Rauschen des Meeres, das keine Schiffe überquerten, drang wie ein fernes Höllengetöse an unser Ohr“, schreibt sie in ihren Erinnerungen „Der Riß der Zeit geht durch mein Herz“.
„Unter den Wartenden verbreiteten sich Gerüchte“, schreibt sie 40 Jahre später. „Morgen wird auch Marsaille besetzt…Schon kontrolliert Gestapo die Präfektur…die Aufenthaltsbewilligung, die du kriegst, gilt nur für KZ…“.
Die Deutschen besetzten den „freien“ Teil Frankreichs erst über ein Jahre später. Doch die Furcht vor Auslieferung durch die Petain-Regierung an Deutschland blieb. Jeder kannte den Passus aus dem Waffenstillstandsvertrag „Auslieferung auf Verlangen“ und sie wußten, daß sie damit gemeint waren.
Die Masse der Heimatlosen drängte sich immer dichter in der Mausefalle Marsaille. Schiffe nach Übersee gab es nicht mehr. Die wenigen Passagen in die überseeischen Provinzen und Territorien Frankreichs waren längst ausgebucht und auf die Frachter nach Nordafrika (Oran, Casablanca und in den heutigen Senegal) strömten die Reste der geschlagenen französischen Armee, die dort demobilisiert werden sollten. Manche jungen männlichen Flüchtlinge ergatterten militärische Ersatzpapiere und wurden in Casablanca mit ordentlichen französischen Papieren demobilisiert.
„Hans, mein Mann, hatte kein großes Vertrauen zu all den Plänen mit geheimnisvollen Schiffen“ berichtet die Antifaschistin Lisa Fittko in ihrer Autobiographie „Mein Weg über die Pyrenäen“.“ Einer nach dem anderen waren sie in Wasser gefallen…Und diese Schnapsidee mit Konsulaten und Transitvisen, Devisenerlaubnis und Nord- oder Südamerika, das klang wie eine Fantasiewelt, an die man sich klammerte, weil man sich in der unwahrscheinlichen Wirklichkeit nicht mehr zurechtfand. Leute wie wir, ohne Verbindungen, Papiere und Geld, wohin konnten wir gehen, wo uns alle neutralen Länder wie die Pest mieden.“
Und so traf sich die politische und literarische Welt aus den von Deutschland besetzten Ländern auf der Cannebiere, in Bistros oder in den Schlangen vor den Hilfsorganisationen wie den Quäkern und den Konsulaten auf der Suche nach Ausreisemöglichkeiten Mausefalle Marsaille.
„Um den Blicken der Flics zu entgehen, drängten wir uns, wie gewohnt, in möglichst dichte Menschenmassen. So gerieten wir in die wartende Schlange vor einem der Konsolate. Die portugiesische Flagge hing schlaff am Mast und die Mittagssonne brütete über den Wartenden“ berichtet Hertha Pauli. „Ein Mann vor uns bedeckte sein Gesicht mit einem Taschentuch, mit dem er sich hin und wieder den Schweiß abwischte. Ich erkannte die Frau neben ihm…“Alma, Alma“ rief ich ihr zu. „Wie könnt ihr bloß hier in der Hitze stehen? Das kann noch dauern…“Der eiserne Wille von Alma Mahler-Werfel war nicht leicht zu beugen. „Franzl muß durchhalten“ erwiderte sie (Mahler). „Wir brauchen das Visa“. Es schien Hertha Pauli unbegreiflich, daß man Franz Werfel nicht vorließ. „Sein Name war doch durch seine Bücher in aller Welt bekannt“, meinte sie
Ein anderes Mal traf Hertha Pauli den geflüchteten Hitlerbiograph Konrad Herden zufällig in der Schlange vor dem amerikanischen Konsulat und diskutierte mit ihm, ob Thomas Mann aus den USA Hilfe organisiert hätte. „Vielleicht wisse der Heinrich davon, Thomas Manns Bruder“, gibt Pauli Herden wieder. “Auf einer Bank im Schatten der Buchenzweige ausruhend fanden wir ihn eines Tages. Etwas schwerfällig kam uns der fast Siebzigjährige entgegen…Doch hatte auch er kein Sterbenswort von seinem Bruder gehört. „So ist der Thomas eben“, meinte er brüderlich mild. Sein kleiner unscheinbarer Begleiter setzte sardonisch hinzu: “Nachrichten dringen nicht durch. Man muß sich hier selber durchbringen“. So sprach Lion Feuchtwanger, der Heinrich Mann nicht von der Seite wich.“
Mißtrauen herrschte zwischen den Exilanten. So erzählt die Schwester des Physiknobelpreisträgers Wolfgang Pauli, daß sie Heinrich Mann nicht ihre Adresse in Marsaille gegeben hatte, in der sie zusammen mit Walter Mehring, Leonhard Frank und dem bekannten Wirtschaftsmathematiker und Pazifist Emil Julius Gumbel untergekommen war. Und von Lion Feuchtwanger erfuhr sie erst später, daß der Autor des „Jud Süß“ sich in der Privatvilla des amerikanischen Vize-Konsuls Bingham versteckte.
Irgendwann breitete sich unter den Flüchtlingen das Gerücht aus „Im Hotel Splendide ist ein Mann abgestiegen, ein Amerikaner, mit einem Haufen Dollar und einer Liste von Leuten, die gerettet werden sollen“, scheibt Hans Sahl in seinem Roman „Die Wenigen und die Vielen“. Und hier stimmen Fiktion und Wirklichkeit überein.
Thomas Mann und die bereits in den USA lebenden Deutschen wie Hermann Kesten hatten bereits drei Tage nach dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Frankreich und Deutschland das „Emergency Rescue Committee“ (ERC) mitgegründet. Die im US-Exil lebenden wußten, was der § 19 des Waffenstillstandsvertrag für die in Südfrankreich Eingeschlossenen bedeutete. Das Komitee wollte gefährdeten europäischen Schriftstellern, Journalisten, bildenden Künstlern, Musikern, Komponisten, Schauspielern, Gewerkschaftler und Politiker zur Flucht in die USA verhelfen.
Zunächst sammelten die Amerikaner spontan Spenden. Hermann Kesten beschreibt den Ablauf einer solchen Spendengala in New York. „Damen der Gesellschaft kamen um zu helfen, und blieben wieder aus, als sie im Office, wo kaum ein Stuhl stand, weder Picasso noch Casals antrafen, die das Komitee zu retten vorgab und die garnicht gerettet werden wollten. Gelder für Passagen oder Officespenden wurden bei den Sponsoren gesammelt…mit der Technik von Auktionatoren: Wer spendet $ 1000 für Casals, $ 800 für die Rettung von Picasso, $ 500 für Franz Werfel oder Marc Chagall usw“.
Es waren wohl Erika und Klaus Mann die den Startschuß für die Gründung des ERC gaben. Sie berichteten am Rande einer dieser Galas von den vielen Bittbriefen europäischer Intellektueller, die ihr Vater Thomas Mann täglich erhielt. Noch am selben Abend gründeten zahlreiche Prominente der amerikanischen Öffentlichkeit das ERC.
Als Haupthindernis der Rettung stellte sich schnell die regide amerikanischen Einreisepolitik mit festen Nationen-Quoten und langen Wartezeiten heraus. Das amerikanisch Außenministerium und der Kongreß wehrten sich vehement gegen eine Lockerung des Verfahrens. Schließlich war es die Kennerin der deutschen Literatur Eleanor Roosevelt, die ihren Mann, den Präsidenten der USA und den Kongress mit Druck und z.T. wohl auch Erpressung zur Einführung von „Special Emergency Visitors Visa“ veranlaßte. Das Foto ihres Lieblingsschriftstellers Lion Feuchtwanger hinter dem Stacheldraht in Les Milles soll überzeugend gewesen sein. Anhand von Listen des ERC wurden amerikanische Konsulate in Europa unterrichtet, welche Personen für diese „Danger Visa“ in Frage kommen.
Zusätzlich organisierte das ERC die für die Einreise notwendigen finanziellen Bürgschaften von US-Bürgern oder mit Daueraufenthaltserlaubnis in den USA lebenden Personen. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bürgerten für Walter Benjamin, Thomas Mann für eine ganze Reihe deutscher Intellektuellen. „Anbei das Affidavit für Landshoff“, schrieb Katja Mann an Hermann Kesten. „Den Sponsorbrief wollte Lisel Frank liefern. …Meinen vorherigen Brief Cassierer, Giehse, Feist betreffend haben sie wohl erhalten“.
Und das Komitee schickte im Sommer 1940 Varian Fry, einen jungen amerikanischen Journalisten mit vielen Devisen und einer Liste von 200 Personen nach Südfrankreich. „Wer denn? fragte Hertha Pauli die aus Gurs nach Marsaille geflohene Schriftstellerin Adrienne Thomas. “Der Amerikaner natürlich , er wohnt im Hotel Splendide. Mich hat man weggeschickt“. Hertha Pauli ging weinig später ins Hotel zu Varian Fry und sie stand auf der Liste. Auch ihren Fluchtpartner Walter Mehring gehörte zu den 200 aufgezählten, aber auch bereits verstorbene Bekannte wie tschechische Humorist Ernst Weiss.
Ähnlich wie Fry um die Künstler, so kümmerte sich Frank Bohn im Auftrag der amerikanischen Gewerkschaften um die politischen Flüchtlinge. Der Gewerkschaftler wurde aber nach wenigen Monaten von der ablehnenden amerikanischen Diplomatie zur Rückkehr in die Staaten gezwungen und Fry übernahm auch die Politischen. Er baute in kürzester Zeit die effizienteste Fluchthilfe Organisation in Marsaille auf. „In neun Monaten mühevollster, konsequenter Arbeit hat Fry aus dem Komitee das gemacht, was es heute ist: eine G.m.b.H. zur Rettung bedrohter Menschen, und dies unter den Augen der Gestapo und der französischen Surete“, schreibt der Mitarbeiter von Bohn und Fry Hans Sahl an Thomas Mann. „ Fry hat dabei sehr geschickt die legale Fassade der Visaverteilung und der finanziellen Beihilfen genutzt, um dahinter das illegale Geschäft des Menschen-Fortschaffens und -Versteckens ungestört betreiben zu können. Eine Meisterleistung“.
„Der Schwerpunkt (muß mehr) als bisher auf die illegale Arbeit hinter den Kulissen verlegt werden“, fährt Hans Sahl in einem Memorandum fort. „Vor allem geht es darum die am meisten Gefährdeten sofort in Sicherheit zu bringen. Mit Hilfe von Beziehungen, die in den letzten Monaten mehr und mehr ausgebaut wurden, ist es jetzt möglich, alle, die in Gefahr sind, sofort zu verstecken. Außerdem ist in den letzten Tagen eine Verbindung aufgenommen worden, die es uns ermöglicht, zehn Stunden bevor die Gestapo einen Auslieferungsantrag stellt, den Namen des Gesuchten zu erfahren und ihn in Sicherheit zu bringen…Zu alledem ist aber Geld nötig, sehr viel Geld, um Beamte zu bestechen, Geld, um mit bestimmten Organisationen, die sich berufsmäßig mit Menschenschmuggel befassen, zusammenzuarbeiten, Geld für illegale Grenzübertritte, falsche Papiere usw“.
Mit der Berufsorganisation war die korsische Mafia in Marsaille gemeint. Ein von Fry „Beamish“ genannter promovierter Wirtschaftswissenschaftler hielt den Kontakt zur Unterwelt. Er vereinbarte auch die Festpreise für Pässe und Transporte in französischen Franc, die über eine Anwaltskanzlei in New York in Dollar ausgezahlt wurden. Eine Win-Win Situation für beide Seiten. Die Mafia konnte ihr Geld waschen und aus Frankreich herausschaffen und auf Grund der Hyperinflation verringerten sich die Geldressourcen des Komitees nicht. Beamish lehrte später als Alfred O. Hirschmann in Yale, Columbia und Harvard Wirtschaftswissenschaften. Als Possibilist wandte er sich zeitlebens gegen die tradierte Ökonomie der Zyklen und notwendigen Entwicklungen und betonte die Suche nach Möglichkeiten.
Die größten Sorgen mußte sich Fry um die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Rudolf Breitscheid (Ex-Fraktionsvorsitzender) und Rudolf Hilferding (Ex-Reichsfinnzminister) machen. In einer Mischung von Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung und Staatsmacke schlugen sie alle Pläne zur Flucht über die Grenze aus. „Fry hatte bereits mehrere Pässe für sie anfertigen lassen, die sie jedoch ablehnten.“ schreibt Frys Mitarbeiter Hans Sahl. „Endlich war es ihm gelungen mit Geldern, die aus Amerika gekommen waren, ein Frachtschiff mitsamt Mannschaft zu mieten, die sie nach Amerika bringen sollten. Am Tag vor der geplanten Abreise kam Hilferding auf uns zu. Ich sagte ihm, wie froh ich sei, daß er endlich abfahren könne. Worauf er mir antwortete: ´Nein ich fahre nicht. Vierzehn Tage auf einem Frachtdampfer – wo ich doch so leicht seekrank werde – nein“. Wenige Tage später sagte Rudolf Breitscheid in einem überfüllten Cafe laut zu Hans Sahl: „Ich denke nicht daran zu fliehen. Ich poche auf mein Asylrecht, das man mir als politischer Flüchtling gewährt hat…Ich habe bereits ein Gesuch an Laval gerichtet, als politischer Flüchtling Frankreich legal zu verlassen zu dürfen“.
„Sie haben mit ihrem Legalitätsglauben bereits eine Republik verloren“ antwortete Sahl „jetzt werden sie auch noch ihre Leben verlieren“. Kurz danach wurden Breitscheid und Hilferding von der französischen Polizei verhaftet und an die Deutschen ausgeliefert. Hilferding starb noch auf dem Transport ins Reich. Breitscheid wurde später im KZ Buchenwald umgebracht. Mit Hilferdings verschmähter Passage gelang wenig später Walter Mehring ohne Probleme die Flucht in die USA.
Von einem der kuriosesten Fluchtfall berichtet Hertha Pauli. „Unter allen Namen auf der Liste fand Fry nur einen, der sich selbst nicht für gefährdet hielt: den Maler (Marc) Chagall. Chagall glaubte mit seinen französischen Papieren en regle zu sein; zudem sei er auch noch völlig unpolitisch. (Chagall) saß mit seiner Frau im halbverfallenen Gordes und war vollauf damit beschäftigt, Kühe zu malen. Als sich die Lage zuspitzte erschien Chagall eines Tages im Splendide. `Gibt es auch in Amerika schöne Kühe´, fragte er. Dann erst, als Fry ihn davon überzeugte, daß es in Amerika ebenso schöne Kühe zu malen gäbe, erklärte sich Chagall zur Flucht bereit“. Auch den Surrealisten um Andre Breton und Max Ernst verhalf Varian Fry zur Flucht aus Frankreich. Und natürlich der ganzen eingeschlossenen literarischen Szene von Heinrich Mann über Franz Werfel bis zu den Feuchtwangers. Insgesamt verhalf Fry über 2000 Personen zur Flucht aus der Mausefalle Südfrankreich
Als eine der verläßlichsten Fluchtwege stellte sich die F-Route heraus, der Fußmarsch über die Pyrenäen.