Die Hölle von Gurs (Pyrenäen)
„Jetzt weiß ich, wohin sie uns bringen, ins Konzentrationslager Gurs“ sagte die Widerstandskämpferin Lisa Fittko ihren Mitreisenden im Abteil als ihr Zug nach tagelanger Irrfahrt durch Frankreich den Bahnhof Oloron-St Marie erreichte.
„Während der vergangenen Jahre hatten (mein Ehemann) Hans und ich manchmal Briefe und auch Päckchen an Freunde geschickt, Mitglieder der Internationalen Brigaden, die nach dem Sieg der Faschisten in Spanien über die Pyrenäen nach Frankreich geflohen waren. In Oloron wurden sie vom französischen Militär empfangen und in ein riesiges Konzentrationslager gesperrt…Die berüchtigte Hölle von Gurs. Dahin also brachte man uns.“
Das Leid der deutschen Frauen als „feindliche Ausländer“ begann in Paris im September 39 nach der Kriegserklärung an Deutschland. Alle jüngeren Frauen mussten sich als „feindliche Subjekte“ im Vel d´Hiv, der Winter Radrennbahn einfinden. Das Stadion war vollkommen ungeeignet tausende Frauen zu beherbergen und die Franzosen waren offensichtlich überfordert ein solches Lager zu managen.
Berühmt wurde das Stadion allerdings erst wenige Jahre später, weil hier im Juli 1942 tausende französischer Juden vorübergehend untergebracht wurden, die die französische Polizei im Auftrag der deutschen Besatzung verhaftete. An die anschließende Deportation in die Vernichtungslager erinnert seit den 90er Jahren ein Denkmal. Die auch unrühmliche Vorgeschichte als Lager für deutsche Frauen blieb weitere 20 Jahre unerwähnt. Erst unter der Präsidentschaft Hollands erinnert sich die Grand Nation auch dieses dunklen Kapitels ihrer Geschichte.
Nach zwei Wochen wurden die Frauen aus dem Vel d´Hiv in den Süden abtransportiert und die Reise endete genau dort, wo Lisa Fittko es ihren Mitreisenden prophezeite. Und sie war nicht die Einzige.
Frauen aus der literarischen Welt wie Marta Feuchtwanger, Hannah Arendt und die Autorin Adrienne Thomas waren ebenso hier, wie die Ehefrauen von exilierten Journalisten und Rechtsanwälten. Die Franzosen unterschieden nicht zwischen politischen Emigranten, Anhängerinnen des Nationalsozialismus und reichen Frauen von der Riviera. „Stell dir vor, in unserem Transport war eine Frau, die hat ihr Dienstmädchen aus Nizza hierher mitgebracht“ berichtete eine Freundin Lisa Fittko. Und noch andere Merkwürdigkeiten traten auf. Die Aufseherinnen setzten Mitgefangene als Barackenchefs ein und alle wunderten sich, wer diese Frauen waren: “Die meisten waren jung und beherrschten beide Sprachen fließend. Jüdinnen waren sie nicht und politisch schon gar nicht. Es schien, dass die Aufseherinnen und die jungen Damen sich kannten, dass sie sogar befreundet waren. ´Mensch seit ihr aber doof`“, klärte eine Freundin Lisa Fittko auf.“ Nutten sind es. Nutten aus der Heimat, die in Paris auf´n Strich gehen.“
Schnell sammelten sich die unterschiedlichen Gruppen im Lager. „In aller Stille wurden die Baracken gewechselt“ erinnert sich die aktive Nazigegnerin Fittko. „Die politischen Emigrantinnen sammelten sich. Manche Baracken waren nur von einer einzigen politischen Gruppierung bevölkert, die sich von den anderen isolierte. Wo sind die Tage der Volksfront, dachte ich. Das Lager war in Abteilungen eingeteilt – ilots. Und jede Abteilung war von Stacheldraht umgeben. In jedem ilot standen fünfundzwanzig Baracken mit je 50 Schlafplätzen.“
Toni Kesten schrieb in die USA an ihren Ehemann Hermann, den Herausgeber deutscher Exilliteratur: “Frau Sternheim (Ex-Frau des Dramatikers Carl Sternheim) ist auch hier und Frau Curt Wolff und alle, die wir kennen. Es ist ein bischen schwierig mit der Ernährung und man ist den ganzen Tag an der Luft, was Hunger macht“. Hier stapelt die Briefautorin vielleicht mit Rücksicht auf die Briefzensur oder den besorgten Ehemann tief, die Lebensbedingungen waren elend.
„Die tägliche Hauptmahlzeit waren poids chiches, Kichererbsen“, erinnert sich Lisa Fittko. „Außer einem Stück Brot pro Tag war das die einzige Nahrung. Kichererbsen sind steinharte Kugeln, die über Nacht eingeweicht werden müssen. Dann lässt man sie stundenlang kochen, damit sie essbar werden. Es gab aber kein Kochgeschirr dafür, denn die Töpfe wurden morgens für die Jauche, die man Ersatzkaffee nannte, gebraucht. Das Essen bestand aus einer Kelle trüben warmen Wassers, in dem Kieselsteine schwammen, die man unzerkaut herunterschlucken musste“. „Ich zählte jeden Tag wie viele in meinem Teller herumschwammen“, ergänzt Lisa Fittkos Freundin Paulette. „Es waren immer nur 14 oder 15 und ganz selten mal 16“.
Hygiene war ebenso schwierig. Waschen konnten sich die Frauen nur an einem offenen Waschtrog. Ausziehen war nur unter den Augen der Wachsoldaten möglich. „Bei mir kommen sie nicht auf ihre Kosten“ berichtet Lisa Fittko von einer Frau neben ihr. „Man sah sie neidisch an: Sie besaß eine Regenhaut, die sie als einzige Kleidung zum Waschen trug. Es gab Frauen, die es einfach nicht fertig brachten, sich unter den wachsam spähenden Augen der armee glorieuse zu säubern. Mit grotesken Krümmungen versuchten sie, sich mit dem Handtuch mal oben und mal unten, dann hinten und vorne zu bedecken. Andere zogen sich seelenruhig aus.´Net amal ignorieren`, sagte eine Wienerin in Lisa Fittkos Buch.
Auch der Toilettenbesuch gestaltete sich schwierig. Die Aborte thronten auf einer zwei Meter hohen Holzplattform. Eigentlich bestanden sie nur aus Löchern ohne Haltegriffen über riesigen Kübeln. Sie konnten nur über steile Stufen ohne Geländer bestiegen werden. „Wenn man die Stufen hinauf kam, hatte man eine Zwangsansicht der Frauen, die über den Löchern hockten, ohne sich festhalten zu können. Für uns waren die Stufen nicht das Schlimmste, aber da waren (auch) die älteren und kranken Frauen“, berichtete Paulette in Lisa Fittkos Buch.
Kein Wunder, dass nach einiger Zeit eine große Ruhrepidemie unter den Gefangenen ausbrach. “Durchfall, Leibkrämpfe und jene unbeschreibliche Verelendung, die ich von den letzten Krankheitsattacken her fürchtete. Wie hingemäht vegetiere ich in meiner Box“, notiert Thea Sternheim, die Ex-Frau des Dramatikers Carl Sternheim, in ihrem Tagebuch. „Zum Glück ist Frau Dr. Besmertny, die einzige Ärztin in unserem ilots, eine verständige, hilfreiche Person, die alles tut, was sie kann, den als Ruhr ausartenden Massendurchfall zu stoppen.“
Als die deutschen Truppen im Norden die französische Armee überrollten, brach im Lager Panik aus. „Die Lagerdisziplin löste sich auf“, berichtete Lisa Fittko. „Die Wachen, die Offiziere, selbst der commissaire special de police – alle waren verwirrt und außer Fassung. Man hatte alle Orientierung verloren, weil es keine Richtlinien mehr gab; die Ordnung brach zusammen“.
„Hier sitzen und auf die Gestapo warten“ war für die politischen Frauen keine Option. Sie schmiedeten Fluchtpläne. Und es begann die Suche nach anderen Fluchtwilligen und den Gefährdetsten. „Irgendwo ganz hinten im Block M steckt Anja Pfempfert“ berichtet Fittko über die Sammlungsdiskussion. “Frau Feuchtwanger? Die ist gegenüber in J. Ja sie will heraus, sie hat gesagt, sie kann uns mit Geld aushelfen. Vergesst nicht Hannah Arendt im nächsten ilot. Doch, natürlich kennt ihr sie, sie ist die Frau von Blücher. Sie will mit heraus, doch dann wird sie eigene Wege gehen. Ihr scheint das sicherer“.
Zuerst stahlen die Frauen Vorducke für Entlassungspapiere aus der Kommandantur und fälschten die Unterschrift des Lagerkommandanten. In der Zeit der grüßten Verwirrung über die anrückenden Deutschen gingen sie einfach zum Lager Tor. “Wir waren ungefähr sechzig“ berichtet Lisa Fittko. „Wir sahen, dass Lotte und Nelly, die zuerst durchgingen, ihre Scheine vorzeigen mussten und der Posten sie studierte. Bei den Nächsten sah er nicht mehr so genau hin.“
Viele blieben im Lager, teils weil sie krank waren oder auf ihre Männer warteten. Andere konnten sich die Flucht vor den Deutschen ohne Geld und ohne Papiere nicht vorstellen und zögerten. „In meiner Baracke, von 60 auf 6 zusammengeschrumpft, befindet sich keine fühlende Brust mehr, mit der man vertraut zu reden vermochte“, schreibt Thea Sternheim über die Aufbruchsituation.
Die Deutschen kamen zwar nicht bis Gurs. Sie besetzten lediglich eine kleinen Steifen an der Atlantikküste bis zur spanischen Grenze. Das Lager wurde später aufgelöst und stattdessen verschleppten die Deutschen dann in der ersten systematischen Deportation Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in die Pyrenäen. So wurde Gurs für viele zur „Vorhölle von Ausschwitz“.
Rund zwanzig Jahre nach Kriegsende fuhr die inzwischen in den USA lebende Lisa Fittko erneut nach Gurs und fand nichts außer Wiesen und Wald. Nach dem 2. Weltkrieg hatten die Franzosen das Lager eingeebnet. Kein Zeichen blieb übrig an dem sich die ehemalige Gefangene orientieren konnte. Mitte in den 60er Jahren restaurierten die jüdischen Gemeinden Süddeutschlands mit Hilfe einiger Gemeinden den Lagerfriedhof, der bis heute von Karlsruhe, Freiburg, Mannheim, Heidelberg, Pforzheim, Konstanz und Weinheim gepflegt wird.
Bei einem Bummel entdeckte ich den Friedhof als eine umzäunte Wiese. Über 1000 Menschen sind hier beerdigt. Auf einem Drittel stehen Grabmahle mit deutschen Geburtsorten, der Rest ist frei. Eine Stehle und eine Gedenktafel am Eingang erinnert an das erste Kapitel des Lagers, die Interbrigadisten. Das Frauenlager findet sich nur in Überblicksdarstellungen zu den insgesamt rund 60 000 Gefangenen wieder oder sie werden in den Namenslisten der berühmten Insassen erwähnt.
Auch heutzutage ist es noch schwer Gurs auf den Landkarten zu finden. Die Straße führt an dem kleinen Ort vorbei und nur ein winziges Schild weist auf einen kleinen Pavillon mitten auf einer Wiese, die neue Gedenkstätte seit den 90er Jahren. Darin sind unter Glas einige Schautafeln und Texte zum Lager aufgebaut. Ansonsten nutzt die Dorfjugend den Bau als regengeschützte Knutschzone.
Der nach 1945 aufgeforstete Wald verdeckt mittlerweile den Blick auf die Pyrenäengipfel, den viele Gefangene in ihren Erinnerungen beschrieben. Nur die Orginalquelle der steinernen Kichererbsen und des jaucheartigen Ersatzkaffee, das Betonfundament der Küchenbaracke ist geblieben. Daneben endet mit einem stilisierten Barackengiebel das von Dani Karavan geschaffene Denkmal für die Gefangenen. Dahinter verläuft ein 160 m langes Gleis, dass auf den mit Stacheldraht umzäunten Gedenkhain zuläuft. Vor einer niedrigen Stehle für die Opfer des Lagers verwelkte Ende Mai ein Kranz des Präfekten, den er wohl zum 8. Mai, der Kapitulation der deutschen Wehrmacht niedergelegt hatte.
Das Werk von Dani Karavan ist eines der Schwächsten, das ich von ihm jemals gesehen habe. Ein Gleis und eine Rampe gab es nie in Gurs (außer einer Kleinbahn, die allmorgendlich die Jauchekübel aus den Latrinen wegbrachte und laut Lisa Fittko `Gold-Express´ genannt wurde). Die Gefangenen mussten in Oloron aus dem Zug aussteigen und marschierten die 15 Kilometer bis Gurs zu Fuß oder wurden mit LKWs gebracht. Und wenn die Gleise symbolisch gemeint sind, auf was weisen sie hin bzw. auf was laufen sie zu? Auf den „Gold-Express“? Wohl kaum! Auf eine stilisierte Baracke hinweisen? Schwach! Auf einen lieblosen Bonsaihain aufmerksam machen? Noch schwächer!
In Köln vor dem Museum Ludwig deuten die Schienen wenigstens durch eine visierförmige Stehle nach Deutz, wo am Rheinufer sich der Sammelpunkt für die Juden zur Deportation aus der Domstadt befand. Oder in Port Bou, wo Dani Karavan am Friedhof eine Treppe in einem von Eisen überdachten Gang in Blickrichtung Meer erstellte. Der deutsche Philosoph Walter Benjamin liegt auf dem Friedhof begraben. Er hatte Selbstmord begangen nachdem ihm die Spanier wieder nach Frankreich zurückschicken wollte. Zuvor war er mit Hilfe von Lisa Fittko über die Pyrenäenpässe nach Port Bou abgestiegen.