Wider Willen im Paradies
„Hauptstadt der deutschen Literatur“ nannte Ludwig Marcuse das südfranzösische Fischerdorf Sanary. Und in der Tat liest sich die Steinplatte am Eingang der Touristeninformation am alten Fischerhafen nahe Toulon wie das „who is who“ der deutschsprachigen Exilliteratur.
„In Sanary traf ich gleich am ersten Abend die ganze Bande“, schrieb 1934 der elsässische Schriftsteller Rene Schickele an die aufstrebende Autorin Annette Kolb. „Klossowski, Stielerin (sehr auf Neu!) Bruno Frank und seine reizende Frau (sie leiden schwer unter der ((Lizzy)) Massary, die bei ihnen ist und sich ständig das Leben nehmen will) Feuchtwangers, mehr Milliardär denn je, Marcuses, Bondy. Mit Huxley war ich zweimal zusammen, einmal mit Julius Meier-Gräfe… Vorgestern Roths und Kestens. Die Sitzung verlief gut und lustig über dem Erzählen von Anekdoten, worin Roth und seine schöne Freundin exzillierten. Habe lange nicht so gelacht.“
Zu der Zeit zog auch der ganze Mann-Clan, die Wolfs aber auch ausgebürgerte Journalisten wie Balder Olden und Valeriu Marcu nach Sanary. Die meisten hatte das 3-Reich wegen ihrer politischen Einstellung ausgebürgert, andere wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft. Oft waren sie als Juden und Regimegegner den Nazis doppelt verhasst
Aber nicht nur dem 3-Reich war das Städtchen suspekt. „Der kleine Ort wurde so berühmt, dass die große amerikanische FBI mich vor der Einbürgerung immer wieder fragte: please tell us something about the german colony Sanary,“ schreibt Ludwig Marcuse in seinem autobiografischen Bericht „Mein zwanzigstes Jahrhundert“. “Ich konnte ihnen nur sagen, dass Herrmann Kesten, der seit Jahrzehnten das literarische Gras wachsen hört, mir diesen Ort empfahl; und ich hatte immer wieder viel Mühe, für die freundlich neugierigen Investigatoren klarzustellen, dass wir Deutsche selbst in Hitlers bester Zeit Sanary nicht zu einer „Kolonie“ des Vaterlands gemacht hatten; dass vielmehr dies französische Fischer-Dörfchen in den Dreißigern von einem guten Teil der besten Deutschen Literatur und außerdem von einigen Engländern (unter ihnen Aldous Huxley) auf die freundlichste Weise okkupiert worden war. Auch dass es dort einen Kramladen gab, der hieß:“L`agréable et l´utile“.
Den Kramladen gibt es nicht mehr. Aber das Hotel de la Tour thront immer noch über dem Hafen. Hier lebte der Theaterautor Friedrich Wolf und verschickte begeistert Postkarten mit Hafenblick und eingezeichneten Pfeilen „mein Balkon“. Im „Tour“ stiegen auch die Sommergäste der Exilanten ab. Heute befindet sich laut Michelin Führer eines der besten Fischrestaurants der Region darin.
„Im Exil wird das Café der Ort, wo das Leben weiter geht“, schrieb Ludwig Marcuse. „Bisweilen war ein guter Teil der besten deutschen Literatur im Dorf und saß im „Marine“ oder bei der „Witwe Schwab“. Und die Exilanten lebten intensiv weiter bei Aperitifs und Diskussionen im „La marine“, Chez Schwob“ heute „Le Nautique“ und „Cafe de Lyon“ am Hafen- Wenn B.Brecht mal wieder die Feuchtwangers besuchte, sang er abends im diesen Lokalen Lieder gegen Göbbels und Hitler. Bei einem Besuch in den alten Lokalen erinnert auf der Terrasse nur der neu gepflasterte Kai und die kleinen, modernen Freizeitschiffe an 2018. Glücklicherweise hat die Stadt die Protzschiffe nach Bandol oder St. Tropez verdrängt. So ähneln die Restaurants und das Hafenpanorama Sanarys noch heute den Postkarten Friedrich Wolfs aus den 30er Jahren. Nur die literarische Boheme fehlt.
Wer Sanary als Standort entdeckt hat, ist wie bei jedem Erfolg umstritten. Erika und Klaus Mann hielten in ihrem Riviera Reiseführer aus den 30er Jahren den Maler Paul Levi für den Gründungsvater. Er hatte in den 20er Jahren seine Sommerurlaube hier verbracht und anschließend seine Bilder in den Salons von Berlin und München ausgestellt. Die ersten Flüchtlinge hatten sich schon vor 1933 in Sanary niedergelassen. Der Maler Erich Klossowski lebte seit 1900 in Frankreich. Er und seine Lebensgefährtin die Lyrikerin Hilde Stieler waren eine der ersten, die es nach Sanary zog. Ihre beiden Söhne Pierre (Lyriker) und Balthus (Maler) wurden in Frankreich geboren und berühmt. Anfang der 30er Jahre siedelten sich auch der Landschaftsmaler Walter Bondy und der elsässische Autor Rene Schickele in Sanary an. Einigen gilt der Kunstkritiker und Biograph vieler Impressionisten Julius Meier-Gräfe als Pate für die Künstlerkolonie Sanary. Auch er lebte schon lange vor der Machtergreifung Hitlers in Frankreich.
Seit Beginn des Jahrtausends bewirbt die Stadt offensiv ihre literarischen Gäste aus Deutschland. An jedem Haus der Flüchtlinge brachten sie Erinnerungstafeln an und das Touristenbüro verteilt kostenlos Lagepläne der Wohnorte der Exilierten. Ein markierter Parcours der Erinnerung verbindet die Stationen.
So kann man sich die Villen erwandern. Hoch über der Corniche ragt zuerst der runde Turm, in dem Alma Mahler mit ihrem dritten Ehemann Franz Werfel lebte. Kurz dahinter liegt das Haus von Bruno Frank, in der auch seine Schwiegermutter die Sängerin Lizzi Masary zeitweise zuhause waren. Schräg gegenüber versteckt sich Thomas Manns Villa La Tranquille. Aldous Huxleys Haus thront über den Villen Berg am Abhang zur Bucht von Bandol und Feuchtwangers Villa Valmers liegt so einsam über dem Meer, dass Bertold Brecht bei einem Besuch zu Recht meinte, dies sei der perfekte Ort, um unbemerkt gekidnappt zu werden.
Auf dem Rückweg zum Hafen lohnt es sich, das versteckte Domizil des Journalisten, Schriftstellers und Spanienkämpfers Alfred Kantorowicz zu suchen. Und ein Muss für jeden Kölner: Die Villa le Patrio des Malers Anton Räderscheidt, der hier ab 1936 lebte und in dem Haus zeitweise ein kleines Restaurant für Bekannte betrieb.
Gut zwei Stunden wanderte ich unter Pinien zwischen den Villen umher und es fiel mir schwer in diesem Paradies zu verstehen, worüber die aus Deutschland Vertriebenen sich so wortreich beklagten. Am Wetter, der Aussicht, mangelnden Austausch mit Anderen und Behinderung der künstlerischen Arbeit konnte es nicht gelegen haben. Der Kummer kam eher aus einem Leiden an Deutschland, dem Verlust des Resonanzbodens ihrer Arbeit. Sie vermissten ihre Leser, ihre Bedeutung, ihren Einfluss sowie ihr Einkommen. Die Hoffnung auf eine Systemänderung schwand und die Menschen zuhause vergaßen sie. In Sanary lebten sie wider Willen im Paradies.
Während Huxley mit seiner „Brave new World“ in Sanary auf den Faschismus reagierte, war Lion Feuchtwanger der einzige Deutsche, der die aktuelle politische Situation zum Thema seines Schaffens machte. Teile seiner Exil-Trilogie sind in Sanary entstanden. Die Anderen wandten sich historischen Themen zu. Heinrich Mann schrieb seinen „Heinrich IV“, Thomas Mann vollendete den „Jungen Josephus“, Marcuse „Ignatius von Loyola“ und Herman Kesten „Ferdinand und Isabella“.