Ziegensteige ins Exil - Fluchtrouten über die Pyrenäen
„Solche Schönheit hatte ich noch nie gesehen…Das Bild erschien so unverhofft vor mir, dass ich einen Augenblick an eine Fata Morgana glaubte“. Was nach romantischer Naturschwärmerei klingt, gibt nur den ersten Eindruck der gänzlich unsentimentalen Fluchthelferin Lisa Fittko auf ihrer Scout Tour 1940 über den Pyrenäenpaß zwischen Frankreich und Spanien wieder. „Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite fielen schroffe Klippen ab auf ein zweites Meer.“ Trotz der Bedrohung und Fluchtsituation schien der Ausblick vom Pass alle Flüchtlinge zu beeindrucken. Wenige Seiten später in ihrer Biographie „Mein Weg über die Pyrenäen“ beschreibt sie die Situation als sie ihrem Mann die Fluchtroute zum ersten Mal zeigte und sie an die Grenze kamen. “Ich habe ihm nichts von der Bergspitze gesagt, von der man die beiden Küsten übersieht, weil ich ihn überraschen wollte. Als wir oben ankamen, hat er mir die Hand gereicht, um mir hinaufzuhelfen. Dann schaute er nach vorne, und es muss ihn wirklich gepackte haben, jedenfalls ließ er meine Hand los und ich rutschte zurück“.
Diesen Pass wollte ich finden. Jahrelang vermutete ich, er sei die Verbindungsstraße zwischen Cerbere, dem letzten Ort in Frankreich und dem spanischen Grenzort Port Bou . Ich wunderte mich. Durch den Berg geht der Eisenbahntunnel und über den Grenzkamm führt eine schmale Straße und parallel dazu schlängelt sich seit einigen Jahren ein „Grand route“ (GR) Wanderweg. Er ist Bestandteil der beliebten Fernwanderung (4 bis 5 Tage) vom französischen Port Vendres ins spanische Rosas. Das ganze Jahr über sieht man Wanderer oder Pfadfindergruppen abends in den Etappenorten wie Banyuls, Llanes oder Cadaques ankommen. Der schönste Teil ist sicherlich die Strecke durch den Nationalpark Cap Creus. Der Weg folgt die ganze Zeit der Meereslinie über die Klippen und eröffnet herrliche Ausblicke auf Buchten und Kaps.
Alma Mahler, Franz Werfel, Heinrich und Golo Mann sowie die Feuchtwangers haben wahrscheinlich den steilen Direktaufstieg von Cerbere auf den in 200 m Höhe gelegenen Grenzposten am Coll des Bejitres gewählt. Früher ein Schmugglerpfad in der Nähe der Zollhäuschen. Heute weisen Wanderschilder mit Zeitangaben auf diese Abkürzung hin und auf dem Grad stehen einige Stehlen, die an die Massenflucht der Spanier nach Frankreich am Ende des Bürgerkriegs erinnern.
Alma Mahler, die sich mit ihrem Mann Franz Werfel, sowie Heinrich Mann, seiner Frau Nelly und seinem Neffen Golo Mann auf den Fußmarsch über die Pyrenäen machte, schildert in ihren Lebenserinnerungen die Wanderung als üble Quer-Feld-Ein-Tour.„ Gleich nach dem Ortsende bog der junge Amerikaner (Richard Ball – Mitarbeiter von Varian Fry) von der Straße ab und ging auf steinigem Pfade steil bergauf. Bald kletterten wir weglos. Die Ziegen vor uns stolperten, die Schiefersteine flimmerten, sie waren spiegelglatt, und wir mussten hart an Abgründen vorbei“. Auch der damals fast siebzigjährige Heinrich Mann beschreibt den mühseligen Aufstieg. „Der Ziegensteig nach dem Exil überhob vieler peinlicher Eindrücke, er strengte körperlich an. Ich hatte seit Jahrzehnten keinen beträchtlichen Berg mehr bestiegen, war nunmehr ungeschickt und nicht jung; ich fiel recht oft auf die Dornen…Mehrmals unterstützte mein Neffe mich, dann überließ er es meiner Frau...Er nahm die noch steileren Abkürzungen, kehrte aber zurück, wenn wir gescheitert auf einem Stein saßen“. Nach der erfolgreichen Ankunft der Manns und der Werfels in Lissabon überquerten Marta und Lion Feuchtwanger auf der gleichen Strecke die spanische Grenze.
Dass sie diese Route nahmen, dafür spricht die nüchterne Beschreibung der Gipfelüberschreitung bei Alma Mahler, ihre schlechte Ausrüstung und das Gepäck: „Wir standen auf dem Berggipfel ganz allein. Von weitem sahen wir das Hüttchen des spanischen Grenzpostens, es leuchtete weiß auf den weißen Steinen…Ich hatte alte Sandalen an, schleppte eine Tasche mit dem restlichen Geld und Schmuck und mit der Partitur der 3. Symphonie von Bruckner“. Die 12 Schrankkoffer mit der Alma Mahler flüchtete, transportierte Varian Fry mit dem Zug durch den Tunnel nach Port Bou.
Er war der Einzige, der eine Ausreiseerlaubnis aus Frankreich und ein Transitvisum durch Spanien hatte. Die berühmten Wanderer hatten ein Visum für die USA, eine Schiffspassage ab Lissabon und brauchten nur unbemerkt aus Frankreich ausreisen und sich beim ersten Posten in Spanien melden, um eine Transiterlaubnis zu bekommen.
Veranlasst durch die groß aufgemachten und ausführlichen Berichte in amerikanischen Zeitungen über die Flucht der Manns, Werfels und Feuchtwangers verstärkten die Franzosen die Kontrollen bei Cerbere und Lisa Fittko musste einen neuen Weg auskundschaften.
Das Kap Cerbere mit dem Pass del Bejites ist schön, aber nur eine unter vielen Felsnasen über dem Meer. Dieser Grenzpass lässt sich von beiden Seiten in 45 Minuten zu Fuß besteigen und mit dem Rad sind es noch nicht einmal 30 Minuten. Die berühmte Fluchtroute der deutschen Exilanten musste woanders verlaufen. Ich wusste aus meinem Studium als ich ernsthalt eine Promotion über Walter Benjamin erwog, dass der Philosoph rund 13 Stunden für den Übergang brauchte. So herzkrank konnte Benjamin nicht gewesen sein, dass er 10 Mal länger für seine Strecke benötigte als ich, der mittlerweile deutlich Ältere über das Kap Cerbere. Und die Bestätigung fand ich in den Erinnerungen Lisa Fittkos, die für Varian Frys ERC hunderte Flüchtlinge nach Spanien führte. “Der Weg an den Friedhofsmauern von Cerbere entlang war ein ziemlich einfach zu findender Weg gewesen, und eine Reihe von Flüchtlingen hatten ihn einige Monate benützt, aber jetzt wurde er von den Gardes mobiles schwer bewacht, offenbar auf Befehl der deutschen Kundt-Kommission (Gestapo-Agentur im noch unbesetzten Teil Frankreichs). Der einzig sichere Weg, der noch blieb, war die Route Lister. Das bedeutete, dass wir die Pyrenäen weiter westlich zu überqueren hatten, wo der Gebirgskamm höher war und der Aufstieg anstrengender.“
Der sozialistische Bürgermeister von Banyuls Azema half deutschen Flüchtlingen nicht nur mit Unterkunft und Lebensmittelkarten, sondern machte sie auch auf die Evakuierungsroute des spanischen Bürgerkriegsgenerals Lister aufmerksam. Wenige Monate zuvor hatte dieser seine republikanischen Truppen vor der anrückenden Franco-Armee über die Berge nach Frankreich geführt.
Lisa Fittko hatte vom Bürgermeister nur eine ungefähre Beschreibung des Weges und eine Skizze erhalten als es an ihrer Tür klopfte und Walter Benjamin dringend darum bat, nach Spanien geführt zu werden. In seinem Schlepptau hatte er noch zwei Bekannte, Mutter und Sohn Gurland. Auf Anraten des Bürgermeisters machte die Gruppe auf dem ersten Drittel des Anstiegs eine Orientierungswanderung. Sie könne nur ein bis zwei Stunden dauern, meinte der Bürgermeister, Am nächsten Tag sollte dann die Grenzüberschreitung stattfinden. Der Weg führte zuerst landeinwärts in den alten Stadtteil Banyuls, nach Puig del Mas. „Da war der leere Stall, den der Bürgermeister erwähnt hatte“ beschreibt Lisa Fittko die Suche nach dem richtigen Weg. „Dann stießen wir auf den Pfad, der leicht nach links abbog. Und dann der riesige Felsblock, den er beschrieben hatte. Eine Lichtung! Wir hatten es geschafft, nach fast drei Stunden“.
Mittlerweile ist der Weg ab der Strandpromenade von Banyuls mit zwei horizontalen burgunderroten Strichen ausgezeichnet. Zuerst geht’s in den alten Ortsteil Puig del Mas, dann kurz auf einem Fahrweg hinaus. In der ersten Rechtskurve kürzt die Route direkt durch die Weinberge eine größere Schleife der Schotterpiste ab. Kurz vor dem Coll del Bast, wahrscheinlich es das die vom Bürgermeister beschrieben Lichtung, treffen sich Fahrweg und Fluchtroute wieder. Wie Lisa Fittko fand auch ich diesen ersten Teil einfach. Nach 1,5 Stunden stand ich auf dem Coll del Bast.
Der herzkranke Walter Benjamin übernachtete trotz Warnungen vor wilden Stieren hier. Er fürchtete am nächsten Tag die gesamte Strecke nicht zu schaffen. Wilde Stiere haben ihn nicht heimgesucht. Am nächsten Morgen fanden ihn Lisa Fittko und der restliche Teil der Fluchtgruppe (Mutter und Sohn Gurland) wohlauf. Und Stiere habe auch ich bei meiner Wanderung nicht gesehen. Den Ausscheidungen nach zu urteilen, treiben sich aktuell in der Gegend nur Wildschweine und Menschen herum.
Nach der Lichtung wird es unübersichtlicher. Die Markierungen und Pfade verschwinden oft und auch Lisa Fittkos Beschreibung hilft nicht weiter. Von einer Straße, die parallel zum Hang verlief und auf der die Zöllner patrollierten, heißt es da. Die Route Liste verlaufe unterhalb der Straße und sei durch einen Überhang verdeckt, komme der Straße aber oft nahe. Und dann beschreibt sie die Schlüsselstelle des Aufstiegs, einen fast senkrechten Weinberg, der direkt zu durchqueren sei.
Steile Weinberge gibt es in der Gegend viele. Die Markierungen sind meist verschwunden und ich konnte mich nur mit meinem Wandernavi an den Wegpunkten zur „route W. Benjamin“ aus dem Internet orientieren, was nicht leicht war. Wieviel schwerer mochte es vor rund 80 Jahren ohne die modernen Orientierungsmittel gewesen sein und dazu mit einem Herzkranken im Schlepptau. „Walter Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen (10 min) machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in dem gleichen regelmäßigen Schritt weiter. ..Was für ein merkwürdiger Mensch“, schreibt die Bergführerin. “Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungsloser Tollpatsch“.
Nach Zwei-Drittel des Aufstiegs verlief sich Lisa Fittko und bemerkte erst nach einer halben Stunde ihren Irrtum. Beim zweiten Versuch gemeinsam mit ihrem Mann bog sie erneut falsch ab. Auch in den Wanderbeschreibungen im Internet findet sich diese verwirrende Stelle oft. In einer Zick-Zack Kurve geht der deutlichere Weg zum Gite am Col de Cerbere, dem Übergang zum letzten französischen Grenzort und nicht nach Spanien. Für die Flüchtlinge wäre das ein fataler Fehler gewesen.
Auch für mich war hier Schluss, weil sich hinter den Bergkämmen im Süden eine bedrohliche schwarze Gewitterwand aufbaute. Ich war zwar nur 300 m hoch, aber das Gelände konnte es an Steilheit mit den Alpen aufnehmen. Also machte ich mich schnell auf den Rückzug bevor das Berg- oder Seegewitter begann.
Die nächsten Versuche den Pass mit dem doppelten Meerblick zu finden, startete ich von Port Bou, dem Zielort der Flüchtlinge. Der erste Anlauf endete bereits nach vier Kilometer im Talgrund. Am letzten Bauernhof waren alle Hinweisschilder abgeschlagen. Der nach der Karte und dem Navi einzig mögliche Weg war mit einem Gatter versperrt und der Bauer kam bereits mit seinem Hund an der Leine mir entgegen. Steif und fest behauptete er, der Wanderweg gehe hier nicht her, sondern biege einige hundert Meter früher in einer betonierten Furt direkt in die Berge ab. Dass das Quatsch ist, hatte ich mir gleich gedacht. Wohl auch weil mein katalanisch nicht ausreichte, mit dem Bauer anhand der Karte eine Orientierungsdiskussion zu führen, zog ich mich zurück. Natürlich existierte der Weg nicht. Nur Ziegenpfade gingen in der Furt ab.
Doch es gab einen anderen Zugang zum Meeresblick-Pass. Port Bou liegt am Ausgang eines westöstlich ausgerichteten U-förmigen Tales. Auf dem Kamm des Nordrandes verläuft die spanisch-französische Grenze. Nach Süden führt die alte Landstraße nach Figueras. Auf dem Pass über den Klippen von Cap Marcer (Vorsicht, die neue Straße geht durch einen Tunnel) startet ein neu angelegter Wirtschaftsweg entlang des Südkamms des Port-Bou Tales. Orientieren kann man sich an den Wander-Wegweisern Pla de Ras oder Coll de Querroig. Nach 10 Kilometern endet der Weg auf der französischen Grenze am Pla de Ras. In der vorletzten Serpentine nähert der Zugweg sich dem Chemin W. Benjamin, der aus dem Tal hoch kommt und zum Coll de Rumpissar führt (zwischen Pla de Ras und Coll de Querroig.
Das ist nach all meinen Informationen der überwältigende Pass mit dem Blick auf die zwei Meere. Leider hatte ich bei meiner Tour nur einen schönen Blick auf die Bucht von LLanes und die östlichste Spitze Spaniens, dem Cap Creus. Diesmal hing die schwarze Gewitterwand über Banyuls.
Benjamin brauchte vom Pass noch drei Stunden runter bis Port Bou. Nach allen Berichten soll der direkte Abstieg auch heute noch eine arge Rutschpartie sein. Bequemer ist es auf dem breiten Zugweg das Tal halb zu umrunden und von der Südseite nach Port Bou zu gehen.
Die Dreiergruppe (Lisa Fittko war bereits an der Grenze nach Banyuls zurückgegangen) durchquerte den Tunnel unter dem Bahnhof von Port Bou und meldete sich ordnungsgemäß an der Grenzstation. Dort erklärten die spanischen Grenzbeamten den Flüchtlingen, dass nach einer neuen Verordnung alle Einreisenden ohne ein gültiges französisches Ausreisevisa am nächsten Tag zurückgeschickt würden. Sie verhafteten Benjamin und die Gurlands und quartierten sie in einem Hotel ein. In der Nacht schrieb der Philosoph einen Abschiedsbrief an seinen Freund Theodor W. Adorno und schluckte dutzende Morphium Tabletten, „die er sich in Berlin in der Woche nach dem Reichstagsbrand besorgt hatte“, wusste Arthur Köstler zu berichten. Geschockt vom Tod Benjamins zogen die spanischen Behörden den Erlass zur Rückführung von Flüchtlingen zurück und ließen die Gurlands weiterreisen.
Ich erinnere mich gut an meine Zeit Anfang der 90er Jahre in der hessischen Landesregierung. Während der Bundesratspräsidentschaft des Landes kam der damalige Ministerpräsident Hans Eichel aus Bonn zurück und es gab für Wochen nur noch ein dringendes Thema, woher bekommen wir das Geld für ein Denkmal an Walter Benjamin. Wir kramten fieberhalft alle Pfennige im Haushalt zusammen bis es reichte. Als dann im Juni 1994 das Monument von Dani Karavan für Walter Benjamin in Port Bou eingeweiht wurde, hatte der Ministerpräsident Wichtigeres zu tun und schickte seine Wissenschaftsministerin. Meine erste, aber nicht einzige Enttäuschung von Hans Eichel.
Dabei lohnt sich der Besuch des Mahnmals am Friedhof. Im Gegensatz zu seinem Werk in Gurs ist Karavans Installation in Port-Bou inspirierend. Walter Benjamin ist auf dem Friedhof des Grenzortes beerdigt.