Feindliche Subjekte
„Sie wollen zu den Wandgemälden?“ fragte mich Ende der 90er Jahre der Pförtner vor der Ziegelei in Les Milles bei Aix-en-Provence als ich ihn nach der Gedenkstätte für die Internierten fragte. Ich hatte kurz zuvor gelesen, dass man Überreste des berüchtigten Lagers in einer alten Ziegelei gefunden hatte. Jenes Lager in das die deutschen Männer aus Südfrankreich nach der Kriegserklärung 1939 als „feindliche Subjekte“ geschickt wurden. Unter ihnen befanden sich rund 40 Maler wie Max Ernst, der Kölner Anton Räderscheidt oder der Berliner Wols (Wolfgang Schulze). Dutzende Autoren wie Fritz Brügel, Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever, Wilhelm Herzog, Alfred Kantorowizc, Rudolf Leonhard, Golo Mann, Hans Marchwitza, Manes Sperber und Kurt Wolff, aber auch bekannte Journalisten, Rechtsanwälte und ganz normale Antifaschisten. In der Hochphase vor dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich waren bis zu 3000 Gefangene in des Milles interniert.
Les Milles wurde bald berühmt. Das Bild von Lion Feuchtwanger hinter Stacheldraht ging um die Welt. Ein tschechischer Mitgefangener hatte es gemacht und nach Amerika geschickt. „Dieses Foto gelangte – ich weiß nicht wie - an Viking Press in New York“, schreibt Marta Feuchtwanger in „Nur eine Frau“. „Ben Huebsch war tief erschrocken und fuhr damit sogleich zu Mrs. Roosevelt. Sie zeigte es ihrem Mann, der sofort das Nötige veranlaßte…“. Das Foto bewegte damals die Intellektuellen rund um den Globus und Les Milles war in aller Munde.
Umso erstaunter war ich als der Pförtner mich vor 20 Jahren zu einem Hintereingang der noch aktiven Ziegelei schickte. Verschämt versteckte sich hier der Zutritt zum alten Speisesaal der Wachmannschaften. Der große Raum war überfüllt mit Stellwänden auf denen notdürftig einige Bilder gepinnt und mit Schreibmaschine kleine Texte zur Geschichte des Lagers angeheftet waren, alles ausschließlich auf französisch. Das war das ganze Erinnern.
Die vielen Paravents verstellten den Blick auf die großen Wandfresken der internierten Künstler, in denen sich alles ums Essen drehte. So findet sich ein Gelage aller Nationalitäten nach dem Motiv des „Letzten Abendmahls“ von Leonardo Da Vincis an der Stirnwand des Saals; Ein gemeinsames Gemälde von Max Ernst und Hans Bellmer; ein Cartoon, in dem stilisierte Franzosen mit Baskenkappe Wein, Wurst und Käse heranrollen, prangt über den Seitenfenstern. Aber auch direkte Anspielungen auf die prekäre Versorgungssituation malten die internierten Künstler als Überschrift über ihre lukullischen Phantasien; „Puissent nos dessins vous calmer l´appetit“ (Mögen unsere Zeichnungen Euren Appetit zügeln).
„Die Zustände im Lager Les Milles waren auch in der letzten und schlimmsten Zeit nicht so, dass man deswegen in den Tod hätte fliehen müssen“, schreibt A. Kantorowizc in seinen Erinnerungen „Exil in Frankreich“ offenbar in Anspielung auf den Selbstmord von W. Hasenclever im Lager. „Aber hart waren sie, besonders für die Älteren, die sich oftmals unversehens und für sie unbegreiflich menschenunwürdigen hygienischen Bedingungen unterworfen sahen. Dazu kam die Haftpsychose, die Ungewissheit, die Sorge um die Frauen, die in das noch weit rauere Lager Gurs an den Pyrenäen verschickt worden waren“.
Seit 2012 ist das „camp des Milles“ französisches Nationaldenkmal. Ein hoher fester Zaum umgibt die alte Ziegelei. Der Pförtner sitzt jetzt hinter schusssicherem Glas und überwacht eine Vereinzelungsanlage und auf dem Gelände patrollieren bewaffnete Fallschirmspringer der Fremdenlegion. Im Erdgeschoß der Ziegelei haben die Ausstellungsmacher ein modernes multimediales Informationszentrum eingerichtet, in dem die Geschichte der Internierung aufgearbeitet wurde. Stehlen informieren über bekannte Insassen. In der Ziegelei selber ist mit archäologischer Genauigkeit nach Überresten und Lebenszeichen gesucht worden. Auf dem Rundgang durch die dunklen Gewölbe weisen Schilder auf die oft kaum erkennbaren Zeichnungen und Inschriften aus der Zeit hin. „Die Katakombe“ heißt z.B. ein Treffpunkt der deutschen Intellektuellen. Es ist ein gemauerter Brennofen im dunklen Inneren des Gebäudes, den die Gefangenen nach einem berühmten politisch-literarischen Kabarett in Berlin vor 1933 benannt hatten. Teil 3 der Ausstellung beschäftigt sich mit den aktuellen Formen von Flucht und Exil und in einem vierten Ausstellungsteil informiert Serge Klarsfeld über die deportierten jüdischen Kinder. Denn nach den feindlichen Subjekten aus Deutschland diente Les Milles als Sammellager für die Juden aus Südfrankreich, die von hier aus in die Vernichtungslager geschickt wurden. Ein alter Eisenbahnwagon auf dem stillgelegten Gleis vor der Ziegelei erinnert an dieses unrühmliche Kapitel des Vichy Regimes.
Aber der Wagon könnte auch ein Symbol für die deutschen Exilanten sein. Nur fehlt jeglicher Hinweis auf den Geisterzug, der das Ende der Deutschen in Les Milles markierte. Als die Wehrmacht in Frankreich durchbrach, ferchten die Kommandeure von Les Milles rund 2000 Insassen in einen Zug. Es war so eng, dass an sitzen oder liegen nicht zu denken war, wird berichtet.
Und wohin es gehen sollte, wusste auch niemand. „Ein längerer Aufenthalt in der kleinen Hafenstadt Sete gab vielen die Hoffnung, man würde uns von dort mit einem Schiff nach Afrika, Tunis, Algerien oder Marokko bringen“, erinnert sich Alfred Kantorowizc. „Doch dann fuhr der Zug im strömenden Regen in die Pyrenäen hinein. Nun dachten viele wir würden in die Lager Gurs und Vernet eingeliefert werden, und so trüb diese Aussicht war, erhoffte man doch, in Gurs die Frauen wiederzufinden. Wir hatten schon den Wallfahrtsort Lourdes hinter uns gelassen und näherten uns der Stadt Oloron, wo sich entscheiden würde, ob wir nach Gurs gehen oder weiterführen. Wir fuhren weiter. Am dritten Tag nach unserer Abfahrt erreichten wir das uns bis dahin verheimlichte Ziel, die Hafenstadt Bayonne.“
Und hier geschah das geisterhafte. Kurz vor Bayonne stoppte der Zug und Lion Feuchtwanger musste zum Transportkommandanten. „Wir sahen ihn schon nach kurzer Zeit auf dem Bahnsteig zurückhumpeln“, berichtet Kantorowizc. „Ich zwängte mich auch aus dem Wagen und humpelte – auch meine Beine waren angeschwollen - auf die Gruppe zu und erschrak, als ich Feuchtwangers Gesicht sah; er schien mir in dem Augenblick völlig verfallen und zum ersten Mal seitdem ich ihn kannte, seiner stoischen Haltung beraubt. Er rief mir und den anderen mit brüchiger Stimme zu: `Die Deutschen sind in Bayonne. Rette sich wer kann!´. Die französischen Offiziere bestätigten die Meldung“. Die Immigranten hatten genug Phantasie und Erfahrung sich auszumalen, was es heißt in die Hände des Dritten Reichs zu fallen. Aus lauter Panik vernichteten alle ihre Papiere und Manuskripte. Die meisten flohen aus dem Zug, andere fuhren mit ihm zurück nach Nîmes.
Doch die Deutschen besetzten Bayonne erst später. Das Gerücht vom Einmarsch der Wehrmacht hatte der Transportkommandant selber ausgelöst, als er ankündigte, ein Zug voller „Boches“ käme nach Bayonne.